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Kinder blicken dich an
Seit Marie-Jo Lafontaine mit „Les larmes d’acier” (1986/87) bei der documenta 8 Aufsehen erregte, gilt sie vor allem als Schöpferin monumentaler Videoskulpturen, durch welche die Betrachtenden mit der „Ambivalenz” von Eros und Thanatos, von Leidenschaft und Gewalt konfrontiert werden. Dieses Bild ist zwar nicht völlig falsch, aber einseitig und eng – in thematischer Hinsicht ebenso wie in bezug auf die von Lafontaine eingesetzten künstlerischen Mittel: Auch wenn die Arbeit mit dem Medium Video bis heute einen Schwerpunkt in Lafontaines Werk darstellt (wovon z.B. die 1997-1999 geschaffenen Installationen „The Swing” und „Chill-Out Room” zeugen), ist ihr ästhetisches Repertoire selbst in diesem Bereich vielfältiger, als meist zu hören oder lesen ist, nicht nur wegen der formalen Gestaltung jener Skulpturen, sondern auch deshalb, weil die Künstlerin Videowerke genauso als Rauminstallationen schafft (wie z.B. „Pourrai-je emporter dans l’autre monde ce qui j’ai oublié de rêver ((la mer et les nuages))”, 1994). Allein schon das ist ein Grund, weniger das erwähnte Vorurteil weiter zu pflegen und zu verbreiten als sich eingehender mit dem Werk selbst zu befassen. Wer sich darauf einläßt, entdeckt aber bald, daß die Künstlerin zur Darstellung verschiedenster Gegebenheiten der „conditio humana” auch andere Mittel einsetzt, z.B. Wandteppiche und monochrome Malerei, Fotografie und Text, Skulpturen und Installationen.
Ein wesentlicher Aspekt von Lafontaines Werk ist seit einem Dutzend Jahren das Bildnis heranwachsender Menschen, beginnend mit den Portraits junger Frauen in den 1989-1991 entstandenen Werken „Savoir, retenir et fixer ce qui est sublime”, „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören”, „Schmerz ist auch eine Lust” und „La vie une hésitation”. Durch ihre ästhetische Gestaltung wirken diese Werke schön, doch lassen sie sich (entgegen der Kant’schen Definition des Schönen) nicht „ohne alles Interesse mit Wohlgefallen betrachten” (geschweige denn, daß sie schlichtweg angenehm für die Sinne wären). Vielmehr wirken die Bilder in ihrer Intensität auch erschreckend, zumal dann, wenn die Frauen mit weit geöffneten Augen die Betrachtenden anblicken: So zeigt z.B. der Blick der 17 Mischlingsfrauen, aus deren Bildnissen „Savoir, retenir et fixer ce qui est sublime” besteht, alle Leiden und Schrecken, die sie als ethnisch doppelt Ausgegrenzte erfahren. Jene Werke, in denen die Augen der Frauen geschlossen sind, erscheinen in bestimmtem Sinne eher als „schön”, d.h. als weniger beunruhigend, doch vermitteln auch sie eine Ahnung von etwas zutiefst Menschlichem, das uns erschreckt: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang”, wie durch den Titel einer dieser Werkgruppen in Anspielung auf Rilke betont wird.
In den letzten Jahren hat Lafontaine ihre Beschäftigung mit dem Leben in den Zeiten der Adoleszenz noch verstärkt, erweitert und differenziert: So wirkt etwa die „Belle Jeunesse” (1998) nur auf den ersten Blick als das, was der Titel verspricht, während bei genauerem Betrachten die überbuntfröhliche Hülle das darunter verborgene, sozial „ererbte” Vakuum an echten Gefühlen, Bindungen und Werten erahnen läßt, das die „globale” Jugend „cool” mit „fun” zu überspielen sucht. Unmittelbarer zeigen dies die „Liquid Crystals” (1999), als welche
Heranwachsende auch gesehen werden können, d.h. einerseits als etwas Offenes, das dabei ist, sich zu verfestigen, andererseits aber als etwas Wertvolles: Liegt es an den Aussichten auf die tatsächlichen Inhalte und Werte, die sich in ihnen kristallisieren, daß diese jungen Menschen bereits ein solches Maß an Langeweile und Lebensüberdruß ausstrahlen? Kein Wunder, daß sich viele Erwachsene beim Betrachten dieser Bilder unangenehm berührt fühlen – nicht zuletzt in ihrem eigenen Selbstverständnis…
Wer nun glaubt, dem Blick in den Spiegel jugendlicher Augen (bzw. dem, was er uns von uns selbst zeigt) durch Hinwendung zum Kind entkommen zu können, täuscht sich gewaltig -zumal in den Werken von Lafontaine: Diese schuf z.B. 1993/94 eine Reihe von Bildern mit dem Titel „Als das Kind noch Kind war”, die uns Kinder als verschreckte Opfer von Gewalt ebenso ‘ zeigen wie als Täter, die mit Waffen oder mit dem Globus „spielen”; eines dieser Bilder, das seit 1994 im Rahmen der Ausstellung „l Am You” in vielen Städten Europas als riesiges Plakat gezeigt wurde, stellt z.B. einen Jungen dar, der eine Pistole auf die Betrachtenden richtet. Etwas ruhiger wirken auf den ersten Blick die „Kinder der Ruhr” (1996/2000), an die 20 „Brustbilder” von etwa zehnjährigen Buben und Mädchen aus dem Ruhrgebiet, die sich den Betrachtenden mit nacktem Oberkörper darbieten und sie unverwandt anblicken.
Die Bildnisse der „Kinder der Ruhr” haben mit den anderen fotografischen Zyklen einige formale und inhaltliche Merkmale gemeinsam. Anders als diese bilden sie jedoch ein „work in progress”, dessen Zusammensetzung ähnlich fluktuiert wie die einer Gruppe von Menschen; dementsprechend erscheint die Werkgruppe bei verschiedenen Gelegenheiten (so etwa 1996 in Oberhausen, 1997 in Salzburg, 1998 in Wolfenbüttel und Derry, 1999 in Dortmund sowie 2000 in Luxemburg, Oldenburg und München) in jeweils anderer Komposition. Die Aspekte des Wachsens und der Vielgestaltigkeit zeigen sich u.a. auch darin, daß die „Kinder der Ruhr” in unterschiedlichen Fassungen existieren: So wurden die großformatigen Schwarzweißfotos mit farbigen Predellen z.B. 1996 in Oberhausen oder 1997 in Salzburg als „bloße” Tafelbilder an der Wand präsentiert, während 1998 in Wolfenbüttel oder 1999 in Dortmund eine Auswahl der Arbeiten in ihren lediglich abgedeckten, an die Wand gelehnten Transportkisten gezeigt wurde; zudem existieren manche der Bilder auch mit „charakterisierenden” Aufschriften in den Predellen (z.B. „Demain appartient au fou d’aujourd’hui”, „Rara Avis”, „Eine Anemone
zwischen den Dornen”, „Alea lacta Est” oder „C’est moi la poursuite du vent”). Jede Form der Darstellung bringt andere Bedeutungsaspekte der Bilder zum Aufleuchten. So verleiht etwa die Fassung in den Transportkisten den Bildern und ihrem Gegenstand etwas Provisorisches: Es scheint, als ob sie, gerade erst angekommen, auf ihre Abreise warteten. In dieser Form lassen die „Kinder der Ruhr” also auch an unsere Lebensreise denken – an das Gefühl, die Koffer wieder packen zu müssen, kaum daß wir angekommen sind.
Wenn überhaupt, so sehen wir gewöhnlich manche dieser Arbeiten in einer der Fassungen. Um sie in einem umfassenderen und differenzierteren Sinne zu verstehen, müßten wir sie nicht nur in all ihren Erscheinungsformen kennen lernen, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Werken. Allerdings würden wir die Menschen überfordern, wenn wir von ihnen verlangten, daß sie möglichst alle Ausstellungen von Lafontaine (oder auch anderer Kunstschaffender) besuchen, um ein solches Verständnis zu gewinnen. Dies ändert indes nichts daran, daß jegliches Verständnis etwas von uns verlangt. Insbesondere müssen wir uns einem Kunstwerk (wie auch einem Menschen) aufmerksam zuwenden, sofern wir etwas von ihm verstehen wollen. Wie Lessing im „Laokoon” (1766) betont, werden Bilder gescharfen, „um nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden.” Dies gilt auch für die Bilder von Marie-Jo Lafontaine – aber nicht nur für diese oder andere Werke: Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht auch wir und andere Menschen mehr verdienen, als bloß erblickt zu werden. Bloß auf etwas zu blicken, ist ein Zeichen geringer Achtung sowie davon, daß es uns nicht darauf ankommt; in diesem Fall ist uns wohl auch nicht wichtig, ob wir etwas davon verstehen oder nicht. Wenn wir etwas verstehen wollen oder wenn es darauf ankommt, etwas zu verstehen, dann ist zumindest notwendig, daß wir uns Zeit lassen und daß wir etwas (d.h. uns, einander oder auch andere Dinge des Lebens) betrachten – lange, wiederholtermaßen und aus verschiedenen Perspektiven betrachten.
Wer eine Ausstellung der „Kinder der Ruhr” besucht, sieht zunächst, wie erwähnt, „gewöhnliche” Brustbilder von Buben und Mädchen mit nacktem Oberkörper. Entgegen ihrer offensichtlich unterschiedlichen Herkunft sind sie dadurch einander gleich, denn die Kleider und andere Dinge, die sie äußerlich unterscheiden und ihnen jeweils andere soziale Rollen zuweisen, sind ihnen genommen. So gesehen sind sie alle schlichtweg Menschen – und wir Menschen sind ja, wie wir alle wissen (oder zumindest wissen sollten), in gewissem Sinne, d.h. in Hinblick auf die Grundgegebenheiten unserer Existenz, wesentlich nackt. Diese Gemeinsamkeit ändert freilich nichts daran, daß wir uns in vielerlei ebenso wesentlichen Hinsichten voneinander unterscheiden (und die Einsicht in jene Gemeinsamkeit und Gleichheit ist sogar die Grundlage dafür, daß wir die individuelle Differenz und Einzigartigkeit als solche erkennen und anerkennen können). Eben diese Unterschiede werden in den Bildern der „Kinder der Ruhr” durch die Reduktion des Äußerlichen auf die nackte Haut betont: Wir sehen nicht Kinder, die fein herausgeputzt zum Fototermin in die Kamera lächeln, sondern Menschen, die (wie alle anderen Menschen auch) als das ernst genommen werden wollen, was sie sind. Die Augen, der Mund, die Schultern, Brüste und Arme sowie zum Teil auch die Hände der Kinder sprechen uns auf jeweils andere Weise an, wobei die Individualität der Buben und Mädchen durch die verschiedenen Farben der Predellen, mit denen die Bilder unterlegt sind, noch betont wird. So drücken denn diese Kinder eine große Vielfalt der Facetten eines Individuums ebenso aus wie die Vielfalt der Menschen: Wir sehen Schüchternheit, Scham, Angst, Trauer, Ärger, Wut, Trotz, Verweigerung, Langeweile, Gelassenheit, Neugier, Mut, Angriffslust, Spott, Ironie, Witz und vieles andere mehr.
Daß diese Menschen ernst genommen werden wollen bzw. Achtung gebieten, wird uns insbe- sondere dann bewußt, wenn wir auf sie bzw. auf die Fotos mit ihren Darstellungen zugehen. Was aus der Ferne wie das bloße Bild eines Kindes aussieht, entpuppt sich aus der Nähe als etwas, das größer ist als wir, die Betrachtenden. Unmittelbar vor den Bildern stehend, merken wir nicht nur, wie riesig die dargestellten Kinder im Vergleich zu uns selbst sind, sondern spüren auch erst recht die Intensität und Vielfalt menschlicher Regungen, welche die dargestellten Madchen und Buben ausstrahlen. Und wir spüren auch ihren Blick, der, fotografisch festgehalten, unbeirrt auf uns ruht, während wir vor den Bildern auf und ab gehen. Daß die „Kinder der Ruhr” uns so lange und in ihrer Gesamtheit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, ist nicht ihr „Verdienst”, sondern das Ergebnis des künstlerischen Wollens von Frau Lafontaine. Mit der Verschiedenheit der Blicke und anderen Zeichen zeigt sie uns freilich die Verschiedenheit der Menschen, die jeweils auf ihre Weise die ihnen gebührende Achtung einfordern
Die Kinder der Ruhr entstammen dabei (im Sinne des Wortes: offensichtlich) verschiedenen Völkern, die nun in Marl ebenso wie in anderen Orten des Ruhrgebiets (und nicht nur in diesem Teil Deutschlands, sondern auch in der „übrigen” Welt) auf mehr oder weniger engem Raum zusammen leben (was noch nicht heißt, daß sie auch zusammenleben). Mimik und Gestik dieser Kinder verraten indes eher individuelle als ethnische Unterschiede. Das Unbehagen, das ihr Anblick trotz der ästhetischen Erscheinung verursacht, liegt so gesehen aber weniger am multikulturellen Hintergrund ihres Daseins sowie an den soziologisch erklärbaren Konflikten in und zwischen ihren Lebensweisen, sondern eher an etwas, das ihnen in gewissem Sinne gemeinsam ist, d.h. an bestimmten Voraussetzungen und Folgen ihrer Existenz: Gilt doch das Zeugen von Nachkommen immer noch als Zeichen von Hoffnung auf eine Zukunft. Aber welche Hoffnung und welche Zukunft bleiben denn unseren Kindern heute noch – in einer Zeit, in der sie aufgrund rasanter gesellschaftlicher, technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen das Gefühl haben müssen, überflüssig zu sein?
Mit Recht hieß es etwa 1998 im Bericht des Worldwatch Institute, „wir verhalten uns so, als ob wir keine Kinder hätten, als ob es keine nächste Generation gäbe.” Damit ist vor allem der Fetisch des Wirtschaftswachstums gemeint, das wir als Errungenschaft feiern, das aber in erster Linie bedeutet, daß eine verschwendende Minderheit von heute lebenden Menschen die Ressourcen für sich beansprucht, die andere (jetzt und vielleicht doch auch noch später lebende) Menschen für ihr Überleben benötigen. Indes müssen wir gar nicht in die Ferne und die Zukunft schweifen, um uns die existentiellen Nöte der jetzt heranwachsenden Kinder zu vergegenwärtigen: Bedeutet doch ein „Wachstum” der Wirtschaft heute im Unterschied zu früher keineswegs mehr, daß es Menschen Arbeit bringt. Sicher leiden allzu viele Erwachsene darunter, daß sie ihre Anstellung verlieren; noch viel mehr Kinder haben aber (nach derzeitigem Stand der Dinge) von vornherein wenig Aussicht, jemals eine zu bekommen. Die jetzt heranwachsenden Kinder sind demnach in einem akuteren Sinn als frühere Generationen von Menschen mit den Fragen konfrontiert: Was mache ich hier? Werde ich gebraucht? Bin ich überhaupt erwünscht? Auch solche Fragen liegen im Blick der „Kinder der Ruhr”.
Das Unbehagen, das Erschreckende, das von diesen Bildern ausgeht, hat mithin mit dem Gefühl zu tun, daß wir dadurch an die eigene Verantwortung erinnert werden, an die Verantwortung für Wesen, die, weil wir sie geschaffen haben, in der Welt sind, allerdings in einer Welt, die wenig mit ihnen anzufangen weiß. Dieses Problem im Umgang mit Kindern (das offenbart, daß die mit dem Zeugen von Nachkommen verbundene Hoffnung eine blinde, gedankenlose ist, wenn wir die Folgen außer acht lassen) ist freilich kein neues, sondern in den Anfängen der abendländischen Kultur verwurzelt: So kann z.B. das Unheil, das lokaste und Laios auslösen, indem sie ihrem Sohn Ödipus das Leben geben, nicht nur so erklärt werden, daß sie dabei gegen den Rat der Götter handeln (der indes nie eindeutig ist), sondern auch so, daß die Furcht vor dem Orakelspruch sie stärker bewegt als das Vertrauen in das Kind, das sie schaffen. Da sie anscheinend nicht anders können, nimmt das tragische Schicksal seinen Lauf. Dies ist aber das Verhalten des „aufgeklärten” Menschen, der mehr Vertrauen in die Richtigkeit von (religiösen, theoretischen, politischen oder anderen) Ideen hat als in die Wahrhaftigkeit der Menschen, mit denen er zu tun hat – einschließlich seiner selbst.
Die „Kinder der Ruhr” spiegeln demnach (wie auch die anderen den Heranwachsenden gewidmeten Arbeiten von Lafontaine) nicht bloß die Situation der Jugend, sondern allgemein die „conditio humana” des modernen Menschen, zumal in ihren sozialen Aspekten. In der Tat sind Gegebenheiten des Zusammenlebens ein zentrales Motiv von Lafontaines Schaffen, vor allem solche, in denen die Spannung von Anziehung und Abgrenzung zum Tragen kommt. Während frühe Arbeiten wie „L’enterrement de Mozart” (1986) oder „Victoria” (1988) den aggressiven Aspekt dieser Spannung hervorheben, erscheint sie in späteren Werken in stärker sublimierter Form, z.B. in jener leuchtenden Schriftstele, die 1991 in München als Element der Installation „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen” in einer Nische an der Außenwand der Glyptothek für die Statue des Perikies dessen Worte setzte: „Und es kommt wegen der Größe der Stadt aus aller Welt alles zu uns herein. Unsere Stadt verwehren wir keinem. Durch keine Fremdenvertreibungen mißgönnen wir jemandem eine Kenntnis oder einen Anblick, dessen unversteckte Schau einem Feind vielleicht nützen könnte. Unsere Stadt
ist die einzige heute, die stärker als ihr Ruf aus der Vergangenheit hervorgeht, sie erregt im Feind – so übel man ihm auch mitgespielt habe – keine Bitterkeit und auch im Untertan keine Unzufriedenheit, daß er keinen würdigen Herrn hätte. Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff.”
Vermutlich war dies schon damals weniger eine Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens von Menschen als ein idealistisches Gegenbild dazu, ihnen als Denk-Mal gewidmet. Indes hat noch kein solches (wie überhaupt die Kunst) Gewalt, Mißbrauch, Folter, Krieg oder anderes Leid verhindern können. Wenn überhaupt noch etwas helfen kann, dann vielleicht „stärkerer Tobak” – Dinge, die uns schmerzen und dadurch das, was es rings um uns zu sehen gibt, eher bewußt machen. Auch bei Lafontaine tritt mitunter die ästhetische Perfektion zugunsten „härterer” Mitteln der Darstellung zurück, so z.B. in den Diptychen von „History Is Against Forgiveness” (1992), in denen Bilder lodernden Feuers mit Fernsehaufnahmen vom Krieg in Bosnien und der rumänischen „Revolution” gepaart sind. Diese Art der Darstellung bedeutet indes noch nicht, daß jene Werke Gewalt zum (einzigen) Gegenstand haben (geschweige denn, daß diese als faszinierend dargestellt würde); vielmehr kommt das Individuum in seinem Anspruch, als das geachtet zu werden, was es ist, gerade auch in der Darstellung von Gewalt, Verachtung oder anderen Formen der Verletzung dieses Anspruchs (mit) ins Spiel.
Kinder blicken uns an – uns, die wir dabei sind, sie zu betrachten. Damit es zu diesem wechselseitigen Schau-Spiel kommt, ist notwendig, daß wir die „Kinder der Ruhr” tatsächlich betrachten und nicht bloß einen Blick darauf werfen. Allerdings ist dies allgemein eine Voraussetzung dafür, daß wir etwas so, wie es ist, schätzen und achten lernen. Wie Lessing im 80sten Stück der „Hamburgischen Dramaturgie” (1769) bemerkt (wo er die Theaterbegeisterung der griechischen und römischen Völker der Gleichgültigkeit und Kälte seiner Zeitgenossinnen und – genossen gegenüberstellt), geht es sogar um noch mehr, und zwar um eine notwendige Bedingung dafür, daß wir überhaupt Erfahrungen machen (im Leben ebenso wie im Umgang mit Kunst): Wenn wir von dem, womit wir zu tun haben, etwas verstehen wollen, dann müssen wir bereit sein, uns welchen Dingen des Lebens auch immer stets aufs neue auszusetzen. Dies gilt für Kunstwerke ebenso wie für andere Menschen. Insbesondere gilt es auch für Kunstwerke, die uns Menschen so vor die Sinne führen wie die „Kinder der Ruhr”. Wir haben die Wahl, aus der Ferne darauf zu blicken und sie als bloße Kinderbilder abzutun oder ihnen näher zu treten und sie in ihrer Größe als etwas zu erfahren, das uns anspricht, dessen Anspruch aber auch etwas von einem verlangt. Diese Kinder blicken dich an. Was also sagst du?
Otto Neumaier
Katalog Marie-Jo Lafontaine
Vereinte Versicherungen AG, München, 2000